Wenn Kinder nicht bei ihren leiblichen Eltern aufwachsen
Erstellt von Hans-Georg Nelles am 14. Februar 2014
„In Europa und Amerika gilt es heute als selbstverständlich, dass Kinder zu ihren leiblichen Eltern gehören und von diesen versorgt werden. Doch diese Sichtweise ist erst 150 Jahre alt“, erklärt die Bayreuther Sozialanthropologin Prof. Dr. Erdmute Alber. „Während meiner Forschungsaufenthalte hat sich deutlich gezeigt, dass die Familien- und Verwandtschaftsbeziehungen der westafrikanischen Baatombu von einer völlig anderen Tradition geprägt sind. Kinder leben hier über viele Jahre ganz selbstverständlich bei Pflegeeltern, ohne dass die leiblichen Eltern aufgrund von Krisensituationen genötigt wären, ihre Kinder in deren Obhut zu geben.
Die Begriffe ‚Soziale Elternschaft’ und ‚Kindspflegschaft’ sind – im Vergleich zu anderen Termini – noch am besten geeignet, diesen Sachverhalt zum Ausdruck zu bringen. Man muss dabei nur den Gedanken an medizinisch oder rechtlich begründete Ausnahmesituationen fernhalten und die soziale Elternschaft als eine anerkannte familiäre Praxis verstehen.“
Wenn bei den Baatombu ein Kind von dessen leiblichen Eltern in Pflege gegeben wird, wechselt in der Vorstellung aller Beteiligten die soziale Zugehörigkeit des Kindes. Es gehört nun zu einer erwachsenen Person, die in der Regel drei Kriterien erfüllt: Sie hat das gleiche Geschlecht wie das Kind; sie ist mit dem Kind und seinen Eltern verwandt; dabei ist sie in der verwandtschaftlichen Hierarchie den Eltern des Kindes übergeordnet.
Vor allem drei Gründe veranlassen die leiblichen Eltern zur räumlichen Trennung von ihren Kindern: Zunächst soll der generationenübergreifende Zusammenhalt innerhalb eines Familienverbandes gestärkt werden. Darüber hinaus ist bei den Baatombu die Vorstellung verbreitet, dass die soziale Elternschaft und die damit verbundene Distanz von der leiblichen Mutter den Reifungsprozess der Kinder fördern. Hinzu kommt die Auffassung, dass Kinder keinen angemessenen Respekt gegenüber den Hierarchien innerhalb des Familienverbandes entwickeln, wenn sie in einer zu engen Beziehung zu ihren leiblichen Eltern leben.
Der Beginn der Kindspflegschaft: ein neuer Lebensabschnitt
Die Kindspflegschaft beginnt in der Regel damit, dass Verwandte, welche die Kriterien für eine soziale Elternschaft erfüllen, ihr Interesse gegenüber den leiblichen Eltern bekunden. Es gilt als respektlos, wenn diese sich einer „Herausgabe“ ihres Kindes verweigern. Diese ungeschriebenen Normen lassen den Eltern wenig Spielraum, die Aufstiegschancen ihrer leiblichen Kinder durch die Auswahl von Pflegefamilien zu beeinflussen. Dennoch gelingt ihnen dies oftmals auf verdeckte Weise durch das frühzeitige Knüpfen geeigneter Kontakte. Wie Erdmute Alber zeigt, hat der Wechsel eines Kindes in eine Pflegefamilie, auch hinsichtlich der damit verbundenen Rituale, Ähnlichkeiten mit dem Wechsel einer jungen Frau in die Familie ihres Ehemannes.
Die Vorstellung, die Kinder könnten durch die langjährige Trennung von den leiblichen Eltern und Geschwistern traumatisiert und in ihrer seelischen Entwicklung gestört werden, liegt den Baatombu fern. Derartige Leidenserfahrungen scheinen insgesamt eher selten zu sein. „Als bemerkenswert erlebte ich in den Gesprächen, dass die überwiegende Mehrheit der erwachsenen ehemaligen Pflegekinder ihre Pflegschaftserfahrungen und die Zeit der Pflegschaft nicht bereut“, berichtet die Autorin.
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