„Ich habe meinen Vater verloren“
Erstellt von Hans-Georg Nelles am 24. Februar 2012
Semiya Simsek, deren Vater am 9. September 2000 das erste Mordopfer der rechtsextremistischen Zwickauer Terrorzelle war, sprach gestern auf der Gedenkveranstaltung für die Opfer rechtsextremistischer Gewalt in Berlin. Ihre Rede im Wortlaut:
„‚Hörst du das? Die Glöckchen. Das sind die Schäfchen, die jetzt aus den Bergen runter ins Tal kommen. Das tun sie immer in der Nacht.‘ Mein Papa erzählte gerne von sich und von seinen Träumen. Ich liebte es, ihm zuzuhören. Er saß in dieser warmen Sommernacht in unserem Garten in der Türkei und aß Kirschen. Ich setzte mich zu ihm und fragte ihn: ‚Kannst du nicht schlafen?‘ ‚Doch Semiya‘, sagte er, ‚ich möchte etwas hören.‘ Und so lauschten wir zusammen dem Klang der Glöckchen der Schafe. Ich spürte, wie glücklich mein Vater in diesem Moment war.
Ein Jahr später war mein Vater tot. Am 9. September 2000 wurde auf meinen Vater Enver Simsek geschossen. Er starb zwei Tage später im Krankenhaus. Der erste Mord. Wir sollten keinen weiteren gemeinsamen Sommer mehr haben. Von einem Tag auf den anderen änderte sich für uns, für mich alles. Das alte Leben gab es nicht mehr. Mein Vater war tot. Er wurde nur 38 Jahre alt. Ich finde keine Worte dafür, wie unendlich traurig wir waren. Doch in Ruhe Abschied nehmen und trauern, das konnten wir nicht.
Die Familien, für die ich heute hier spreche, wissen, wovon ich rede. Elf Jahre durften wir nicht einmal reinen Gewissens Opfer sein. Immer lag da die Last über unserem Leben, dass vielleicht doch irgendwer aus meiner Familie, aus unserer Familie verantwortlich sein könnte für den Tod meines Vaters. Und auch den anderen Verdacht gab es noch. Mein Vater ein Krimineller, ein Drogenhändler. …
Meine Damen und Herren, die Politik, die Justiz, jeder Einzelne von uns ist gefordert. Ich habe meinen Vater verloren, wir haben unsere Familienangehörigen verloren. Lasst uns verhindern, dass das auch anderen Familien passiert. Wir alle gemeinsam zusammen, nur das kann die Lösung sein.“
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