Der traumatisierende Kreidekreis
Erstellt von Hans-Georg Nelles am Montag 19. Dezember 2011
In einem Beitrag für die Zeitschrift ‚DerStandard‘ bezeichnet der Schriftsteller Raoul Schrott die zwischen Vätern und Kindern praktizierte Apartheid als den wohl größten Skandal unserer Gesellschaft:
‚Auf einem Gruppenfoto würden sich die rechtlosen Väter, mit denen ich während der Recherche zu meinem Roman Das schweigende Kind gesprochen habe, in einem ähneln: Sie sind alle im besten Alter, machen aber eine unglückliche Figur. Niemand hat ihnen abgesprochen, gute Väter zu sein, doch die Ohnmacht, ihre Kinder kaum sehen zu dürfen, lässt sie etwas linkisch erscheinen – vielleicht weil Opferrollen schlecht zum gängigen Männerbild passen.
Wo viele Männer vor der Verantwortung flüchten, weil das ihr Leben auf den Kopf stellen würde, haben sie sich vollherzig zur Vaterschaft bekannt – nur um darauf die Trennung von ihren Kindern durchstehen zu müssen. Dieser doppelte existenzielle Rollenwechsel hat ihnen oft den Boden unter den Füßen weggezogen. Dass sie dennoch weiter für ihre Kinder kämpfen, ist kein Zeichen von sturem Beharren. „Mit dem Vater-Sein“, sagt Gregor W., „habe ich zuerst die Gewissheit verbunden, mich ohne Zögern vor einen Bus zu werfen, um mein Kind zu retten.“ So und ähnlich haben alle Väter vom erlebten Gefühl der Selbstlosigkeit gesprochen, um die Trennung von ihren Kindern dann mit einer Art seelischer Euthanasie zu vergleichen.
Vaterliebe ist nicht weniger intensiv als Mutterliebe: weshalb sie dann per Gerichtsbeschluss unterbinden? Der Mensch hat nicht allzu viele gute Eigenschaften: warum dann diese Vaterliebe per Amtsweg kastrieren? Eine Gesellschaft muss sich daran messen lassen, wie sehr sie sich um ihre Kinder kümmert. Dass bei uns der Umgang zwischen Vätern und Kindern – im besten Fall! – auf ein paar Tage im Monat reduziert wird, ist so widernatürlich, wie es die Rassentrennung einmal war. Letztlich leben wir doch in unseren Kindern weiter – weshalb wir ihnen das mitzugeben versuchen, was uns an Gutem ausmacht.
Die zwischen Vätern und Kindern praktizierte Apartheid, stellt wohl das größte Skandalon unserer wohlständigen Gesellschaft dar. Die erste Barbarei ist dabei, dass Müttern wie Vätern nicht automatisch das gemeinsame Sorgerecht zugesprochen wird. Die zweite Barbarei, dass den Vätern selbst ein einmal zugestandenes Sorgerecht jederzeit – und ohne Angabe von Gründen! – entzogen werden kann. Das ist dem Gesetzgeber anzulasten; den Gerichten jedoch ist eine dritte Barbarei vorzuwerfen: dass sie ihren Ermessensspielraum nicht ausnützen, um diese Diskriminierung mit dem Besuchsrecht wenigstens etwas zu kompensieren. …
Der Schaden, den unsere Rechtsprechung anrichtet, ist dabei umso größer, als die Anwesenheit von Vätern in der frühen Kindheit entscheidend ist. Wird der Umgang mit ihnen boykottiert, hat dies Folgen für die Entwicklung. Kinderpsychologische Studien zählen dazu eine erschwerte und verzögerte Individuation des Kindes, Schwierigkeiten im Umgang mit Ambivalenz und Aggression; Depressionen, Konzentrations- und Schlafprobleme; Verunsicherungen im Bereich der Geschlechtsidentität; ein idealisiertes oder abgewertetes Vaterbild, und später Schwierigkeiten im Umgang mit der eigenen Elternschaft und der Beziehung zu den eigenen Kindern. Zusammengefasst werden diese Symptome unter dem Begriff „Elterliches Entfremdungssyndrom“. …
Brechts Parabel vom kaukasischen Kreidekreis hat nichts von ihrer Einsicht verloren. Darin soll ein Armeleuterichter, ein verschmitzter Lebenspraktiker, über den Anspruch zweier Mütter auf ein Kind entscheiden, und verfällt darauf, beide gleichzeitig versuchen zu lassen, das Kind aus einem Kreidekreis herauszuziehen. Die „wahrhaft Mütterliche“ lässt das Kind lieber los, als ihm wehzutun – während Mütter, die auf eine alleinige Obsorge pochen, ihm lieber wehtun, bevor sie es zum Vater lassen.‘